Urban Legend (1) wegen = Genitiv

Urban Legend (1) wegen = Genitiv
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Welcher Fall steht nach der Präposition „wegen“?

Die heutige Präposi­tion wegen war einst eine Ausgeburt der Büro­kra­ten­spra­che.
Sie ent­stand als Nominal­phrase im Hoch- und Spät­mittel­alter in nord­deut­schen Kanz­leien, stammt also aus dem nieder­deutschen Sprach­raum
und wurde erst später als Prä­posi­tion ins Hoch­deutsche über­nom­men.

Ursprung der Präposition „wegen“

„Wegen“ geht auf das Substantiv „Weg“ zu­rück.
Es hatte im Nie­der­deut­schen jedoch eine andere Bedeutung als im Hoch­deut­schen:
Es bedeutete „Seite, Stelle, Ort“.
Diese Bedeu­tung findet sich auch in dem nieder­deut­schen Wort „aller­wegen“ „an allen Stellen“, das es als „always“ ins Eng­li­sche geschafft hat.
Auch in Nord­europa findet sich dieses nieder­deutsche Wort: Isländisch „annars vegar“ be­deu­tet „auf der anderen Seite, anderer­seits“.

So entstand die Wendung „von … wegen“ in der Bedeutung „von der Seite von … aus“.
Um wessen Seite es geht, wurde durch ein Geni­tiv­attri­but ausgedrückt, das sich auf „Wegen“ bezieht.
Ganz ana­log gibt es die Wen­dung „von mir aus“, also „von mei­ner Sei­te aus.“

Diese Urform ist heute noch in den Wendungen „von Amts wegen“ und „von Rechts wegen“ erhalten.

Lange Zeit blieb diese Wendung im Hochdeutschen unbe­kannt, also in der Sprache,
die man bis zur frühen Neuzeit nur im Süden Deutsch­lands, in Öster­reich und in der Schweiz sprach.

Der Ausdruck „von x wegen“ ist den Spre­chern des Hoch­deut­schen ganz und gar un­ver­ständ­lich, da sie die nieder­deutsche Bedeu­tung von „Weg“ nicht kennen.
Auch im Nieder­deut­schen wurde es nicht in guter Sprache ver­wen­det
(viele nieder­deutsche Dichter schrieben ohnehin auf Hoch­deutsch).

Entwicklung zur heutigen Präposition

Die ursprüngliche Wendung „von x wegen“ bedeutete also „von der Seite von x aus gesehen“ und ähnelt dem heutigen „seitens“. Zur heutigen Be­deu­tung von „wegen“ kommt es über das Latei­ni­sche, das im Mittel­alter in deutschen Kanz­leien noch eifrig ge­schrie­ben wurde. „Von x wegen“ wurde mit „propter“ über­setzt.

Propter ist eine adverbiale Ableitung zum Ad­verb „prope“, das „nahe bei“ bedeutet.
So bedeutet „propter“ soviel wie „näh­lich“ oder „beilich“. Das entspricht genau der nieder­deut­schen Wen­dung. Zudem hat das lateinische „propter“ aber noch eine über­tra­gene Bedeu­tung, die der der heu­ti­gen Prä­posi­tion „wegen“ ent­spricht: „propter morbum“ be­deu­tet „we­gen der Krank­heit“. Propter entsteht aus dem Ad­verb „prope“ und der Adverb­endung „∙iter“: „propiter“. Das „i“ schwin­det später. „Pro­pter“ steht als Prä­posi­tion im Latei­ni­schen mit dem Akku­sa­tiv.

So enthält wegen durch das Hin- und Zurückübersetzen die bild­sprach­liche Bedeu­tung von „propter“:

Kausal: Wegen des Sturms/dem Sturm bleibe ich im Haus. → Weil es stürmt, bleibe ich im Haus.
Final: Wegen des Abiturs/dem Abitur lerne ich wie der Teu­fel. → Ich lerne wie der Teu­fel, um das Abitur zu bestehen.

Präpositionen mit Genitiv?

Präpositionen sind Verhältniswörter. Das Ver­hält­nis, das sie aus­drücken, ist immer ein räum­liches Ver­hält­nis. Deshalb regieren Prä­posi­tio­nen grund­sätz­lich nur räumliche Fälle: Der Dativ antwortet auf die „wo?“ (im Park), weil er den auf­gege­benen Loka­tiv in sich aufgenommen hat (dativus locativus).

Präpositionen regieren im Deutschen und im Indo­germani­schen generell nicht den Genitiv. Man findet ihn nur bei Adverbien, die wie Präpositionen gebraucht werden:

mangels Geldes
bezüglich dieser Tatsache
seitens des Klägers
hinsichtlich ihrer Entscheidung

„wegen“ mit Genitiv oder Dativ?

Ursprünglich ist „wegen“ also ein normales Substantiv im Dativ Plural, von dem ein Genitivattribut abhängt.

Erst als die Wendung die Grenze zum Hochdeut­schen im Süden über­schrei­tet und das Hochdeutsche zudem das Deutsch aller Deut­schen wird, wan­delt sich das Sub­stan­tiv in eine Prä­posi­tion, denn den Hoch­deut­schen ist die Bedeu­tung von nieder­deutsch „Weg“ unbekannt. Es handelt sich um einen verdunkelten Ausdruck wie das „Him“ in „Himbeere“.

Im Hochdeutschen stehen Präpositionen aber grund­sätz­lich mit dem Dativ, wenn sie auf die Frage „wo?“ antworten, oder im Akkusativ, wenn sie auf die Frage „wohin?“ ant­wor­ten. Mit dem Geni­tiv ste­hen Prä­posi­tio­nen grund­sätz­lich nicht. Der Genitiv kann sich nur im nord­deut­schen Raum halten, wo die Men­schen die nieder­deutsche Bedeu­tung des Wor­tes „Weg“ noch ken­nen. Später hält er sich aber vor allem durch gedan­ken­lose Sprach­rat­geber, die Vor­schrif­ten pro­pagie­ren, die sie gar nicht ver­stan­den haben.

Dativ und Akkusativ sind räumliche Fälle, der Genitiv ist da­ge­gen ein Kasus, der einen ab­strak­ten, gram­mati­kali­schen Bezug beschreibt. Er hat also nach Prä­posi­tio­nen nichts zu suchen. Das ehemals nachgestellte Sub­stan­tiv „Wegen“ wird nun wie die anderen Prä­posi­tio­nen voran­gestellt und steht kor­rek­ter­weise mit dem Dativ.

Auch die Verwendung mit dem Genitiv ist heute noch mög­lich. Es handelt sich aber um nieder­deut­sche Mund­art und auf keinen Fall um „beson­ders gutes Hoch­deutsch“. Es ist zudem ein gram­matika­lisch nicht mehr korrekter Archa­ismus, denn selbst die Men­schen in Nord­deutsch­land benutzen „wegen“ heutzutage als reine Prä­posi­tion.

Grammatikalisch korrekt und stili­stisch viel bes­ser ist der Dativ: „wegen dem Sturm“. Besser ist es des­halb, weil es räum­licher und sinn­licher ist und dem Kasussystem des Deutschen entspricht.

(Quelle: Daniel Scholten, belleslettres.eu)

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