Urban Legends (2) Zustandspassiv

Urban Legends (2) Zustandspassiv
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In meinen Grammatikkursen ist eines immer erschreckend zu beobachten:
Schüler wissen zwar, dass es bspw. „Relativsätze“ gibt, wie man sie bildet, dass das finite Verb nach hinten gestellt wird. Aber nicht, wofür man „Relativsätze“ eigentlich braucht. Genauso sieht das beim Passiv aus.
„Wofür brauchen wir Passiv?“
Schweigen im Walde. Einigen fällt es dann ein, wissen es.
Andere wurden offensichtlich durch den Passiv oder den Unterricht verwirrt. (<– Passivsatz 
Ein Begriff, der mich nervt, weil er m.E. irreführend ist: „Zustandspassiv“.
Bisher konnte mir noch keiner erklären, was an einem Zustand „passiv“ sein soll! Bei einem Zustand passiert nämlich GAR NICHTS, sonst wäre es kein Zustand! Und Zustände sind statisch, Passiv beschreibt aber eine dynamische Handlung!

Zustände:

1) Der Baum ist grün.
2) Der Hund ist krank.
3) Das Hähnchen ist gebraten.
4) Die Blumen sind erblüht.
5) Der Ballon ist geplatzt / explodiert.
6) Ich bin gut trainiert.
7) Anna ist angezogen.
8) Die Katze ist gestorben.
9) Der Schüler ist gegangen.

Über die Beispiele 1) + 2) müssen wir nicht reden. Niemand käme auf die Idee, dass etwas passiert mit dem Baum oder dem Hund.

Auch bei 3) passiert nichts, solange das Hähnchen gebraten auf dem Teller liegt und niemand danach greift. Aber es IST (Zustand!) etwas passiert. Es hat nämlich jemand das Hähnchen gebraten und jetzt sehen wird das RESULTAT einer Handlung. Und Handlungen können passivisch dargestellt werden, wenn wird das Objekt (Patiens) zum Mittelpunkt der Betrachtung machen, nämlich „was passiert“: Das Hähnchen wird gebraten (Hähnchen = Subjekt, aber immer noch Patiens. „Patiens“ bedeutet, dass etwas oder jemand eine passive Rolle im Satz einnimmt. Im Aktivsatz ist Patiens = Objekt, im Passivsatz ist Patiens = Subjekt. Die Gegenrolle ist „Agens“, „der Handelnde“).

Ein Zustand, der mit Partizip II dargestellt wird, muss aber keine Handlung voraussetzen wie in Beispiel 4), sondern kann auch das Resultat eines Vorganges sein, wie die Beispiele 4) – 8) zeigen:

4) Die Blumen sind erblüht. Das gibt es niemanden, der die Blumen in diesen Zustand versetzt (also keinen Agens), das machen die Blumen alleine: Sie blühen bzw. erblühen und dann setzt ein Zustand ein, sie sind „erblüht“, bedeutet: Die Blüten sind komplett geöffnet. Zustand, kein Passiv.
5) Der Ballon ist geplatzt. Hat niemand gemacht. Selbst wenn jemand eine Nadel genommen hat, könnte man nicht sagen „Hans hat den Ballon geplatzt“, weil „platzen“ ein Vorgang, keine Handlung ist. Ein Agens (z.B. Hans) kann nur „einen Ballon zum Platzen bringen“. Kein Passiv!
6) Niemand hat mich trainiert. Ich habe alleine trainiert und jetzt gibt es den Zustand „trainiert“.
7) Das gleiche auch mit Anna. Niemand hat sie angezogen, sondern sie sich selbst. Hier könnte man noch entgegnen: „Sie hat sich (!) angezogen“.
Richtig, beim Reflexiv ist Agens = Patiens, etwas passiert und dann sehen wir das Resultat: „angezogen“ = fertig, abgeschlossen.
Passiv setzt voraus, dass Agens nicht Patiens ist. Also sind alle Sätze mit Reflexiv nicht fähig, einen Passiv zu bilden.

„Fertig, abgeschlossen“ ist übrigens die einzige Funktion die ein Partizip II hat. Und wenn das Resultat ein Zustand ist, wird dieser mit „sein“ dargestellt.

8) Die Katze ist gestorben. „Sterben“ ist ein Vorgang, dessen Resultat „der Tod“ ist, ein intransitives Verb. Niemand kann „eine Katze sterben“, es ist keine Handlung.
Ähnliche Vorgänge ohne Agens sind „ermüden“, „erkranken“, „gesunden“ (Partizip II: „ermüdet“ / „erkrankt“ / „gesundet“)
„Gestorben“ bedeutet, dass der Vorgang „sterben“ abgeschlossen ist, das Resultat bzw. der Zustand ist „gestorben“ oder „tot“.

9) Der Schüler ist gegangen. Auch ein Vorgang. Keine Handlung. Es wird manchen überraschen, aber „ist gegangen“ ist ebenfalls ein Zustand, mit der Bedeutung „ist weg / ist nicht mehr hier“. „Der Schüler ist zum Unterricht gekommen“ bedeutet „Der Schüler ist jetzt hier“. Zustand.

Einige haben sich sicherlich mal gewundert, warum Perfekt mal mit „sein“, mal mit „haben“ gebildet wird ….. Da hat sich niemand hingestellt und gesagt: „So, jetzt machen wird mal Perfekt mit 2 Hilfsverben, weil es sonst langweilig ist“…. !
Es hat alles in der Sprache eine Logik, auch wenn wir sie nicht (sofort) erkennen. 

„Zustandspassiv“ ist eigentlich ein falsch verwendeter Begriff.
Es müsste „Zustand mit Partizip II“ heißen oder, im Zusammenhang mit Passiv „Passiv-Resultat = Zustand mit sein“.
Genauso müsste man „Vorgangspassiv“ (werden + Partizip II) eigentlich in „Handlungspassiv“ umbenennen, weil es eine Handlung voraussetzt, in der es einen Agens und Patiens gibt  Subjekt und Objekt im Aktivsatz), dessen Agens im Passivsatz meistens obsolet ist (Patiens wird zum Subjekt).

„Handlung“ setzt übrigens nicht nur einen Agens und einen Patiens voraus (wie gesagt), sondern zusätzlich auch, dass etwas PASSIERT (es muss dynamisch sein, nicht statisch), Subjekt und Objekt reichen nicht. Deshalb können auch folgende Subjekt-Objekt-Sätze NICHT ins Passiv gesetzt werden (weil nichts passiert bzw. weder Agens noch Patiens gibt!):
10) Peter hat einen Hund. (statisch)
11) Mein Vater besitzt 4 Häuser. (statisch)
12) Ich brauche eine neue Brille.
13) Hans kennt meinen Vater.
14) Der alte Mann erleidet einen Herzanfall.
15) Ich bekommen ein Geschenk.

Die Subjekte von 10) – 15) sind nicht Agens, weil sie nicht handeln.

Bei 10) – 13) hat das Subjekt übrigens die Rolle „Thema“,
bei 14) – 15) ist die Rolle „Experiencer“
Ist nicht wichtig. Erwähne ich nur. Wer mehr über Rollen wissen möchte, kann mal unter „Role and Reference Grammar“ bei Google suchen.

FAZIT:
Begriffe wie „Vorgangspassiv“ und „Zustandspassiv“ wurden irgendwann eingeführt, um grammatikalischen Phänomenen einen Namen zu geben. Diese Bezeichnungen wurden aber wohl oft nicht mit Bedacht gewählt (<- Passivsatz!), haben sich aber fest in die Schulbücher gebrannt und können meines Erachtens dazu führen, sprachliche Phänomene misszuverstehen oder nur als abstrakte Grammatik.
(P.S.: Kritik erwünscht. Rechtschreibfehler dürft ihr gerne behalten, wir wollen ergebnisorientiert arbeiten und keine Haare spalten!) 

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