Wo ist dem Opa seine Brille? — Zugehörigkeitsanzeige durch Dativattribut
[Quelle: https://grammis.ids-mannheim.de/fragen/27]
Fragen wie diese kann man in weiten Teilen Deutschlands nahezu täglich hören, und dies keineswegs nur von mehr oder weniger bildungsfernen Sprechern, die des Genitivs nicht mächtig wären. Dies ist umso bemerkenswerter, als Generationen von Lehrern und Sprachkritikern sich mühten, der deutschen Sprachgemeinschaft den adnominalen Dativ — so die wissenschaftliche Bezeichnung — auszutreiben. Erfolgreich war die Kritik nur insoweit, als es ihr gelang, diese Form, Zugehörigkeit anzugeben, auf mündliche Alltagskommunikation einzuschränken. Entsprechend finden sich zeitgenössische schriftliche Belege für diese Ausdruckform in aller Regel nur, wo bewusst Alltagskommunikation wiedergegeben oder nachgemacht werden soll, um die landsmannschaftlichen Bindungen der Akteure zu betonen:
[Berliner Zeitung, 31.10.2000, S. 34]
[die tageszeitung, 10.08.1988, S. 16]
[die tageszeitung, 12.04.1991, S. 28]
[Otto Julius Bierbaum, Stilpe. Ein Roman aus der Froschperspektive. Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky, S. 52624 www.digitale-bibliothek.de/band125.htm]
[Wilhelm Busch, Der Schmetterling. Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky, S. 84265, www.digitale-bibliothek.de/band125.htm ]
[ die tageszeitung, 14.07.1989, S. 26]
Sprachgeschichtliche Entwicklung
Obwohl diese Form der Besitzanzeige oder allgemein Zugehörigkeitsanzeige funktional den als Standard akzeptierten pränominalen Genitivattributen — Fritzens Wetter, dessen Muskeln,Nazis Höhle — entspricht, handelt es sich dabei keineswegs um ursprüngliche Genitivformen, an deren Stelle, wie etwa nach bestimmten Präpositionen, eine Dativform getreten wäre. Die Entwicklung dieser Ausdrucksform mag durch die Parallele zu pränominalen Genitivattributen gefördert worden sein, doch sprachgeschichtliche Studien zeigen, dass es sich um echte Dativformen handelt, deren zugehörigkeitsanzeigende Funktion sich, wie anzunehmen ist, einer veränderten Interpretation ursprünglicher Dativkomplemente verdankt, was auch erklärt, weshalb hier, anders als bei den entsprechenden Genitivattributen ein Possessiv-Artikel (sein-,ihr-) auf das Attribut folgen muss, ohne den eine Bezeichnung von Zugehörigkeit nicht zustande käme.
Wann und wieso es zu einer derartigen Umdeutung im Satzbau gekommen ist, lässt sich nicht mit Sicherheit bestimmen. Eindeutige Belege finden sich nach Behaghel jedoch bereits in Schriften aus dem 14. Jahrhundert:
[Friedbg. Urkb. 301 (1377). Zitiert nach Otto Behaghel, Deutsche Syntax, Heidelberg 1923, § 449]
Hier ein Beleg aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts:
[Georg Wickram (um 1505 – vor 1562): Der Goldtfaden. Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky, S. 575798, http://www.digitale-bibliothek.de/band125.htm ]
Exakte Aussagen über die Häufigkeit von Dativattributen sind nicht möglich, da bei FemininaDativ und Genitiv nicht zu unterscheiden sind. Man kann jedoch festhalten, dass Dativattribute schriftlich so gut wie nicht vorkommen, wenn man einmal von Texten der oben aufgeführten Art absieht. Auch mündlich werden sie vermieden, wo immer Sprecher darum bemüht sind, standardkonform zu reden. Im täglichen Umgang allerdings werden sie in manchen Regionen selbst in formelleren Kontexten wie Dienstbesprechungen häufig den Genitivformen vorgezogen und können dort gewissermaßen als „Alltagsstandard“ gelten.
Völlig konkurrenzlos in der Funktion als Anzeige sind Dativattribute in mehr oder weniger stark dialektgeprägter Kommunikation, wenn Genitivformen überhaupt nicht existieren. So kann man etwa im Schwäbischen der Stuttgarter Region hören:
Dativattribute können in solchen Kontexten sogar Reihen bilden:
Wie es dereinst zu einer Uminterpretation von Dativkomplementen zu Dativattributen kommen konnte, lässt sich noch heute nachvollziehen, wenn man Sätze wie diese betrachtet:
[Lena Christ, Mathias Bichler. Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky, S. 87155, www.digitale-bibliothek.de/band125.htm ]
[[die tageszeitung, 22.08.1988, S. 4]]
die tageszeitung, 19.10.1988, S. 18]
[die tageszeitung, 08.06.1991, S. 29]
[die tageszeitung, 16.12.1991, S. 21]
[die tageszeitung, 15.08.1994, S. 8]
Das Brevier, das dem Papst ins Wasser fällt, ist zweifellos nichts anderes als des Papstes Brevier. Weil sich das Dativkomplement auf die Person bezieht, die auch mittels sein als „Betroffener“ der im folgenden genannten Sache oder Person geführt wird, tritt keine entscheidende Informationsveränderung ein, wenn man — anfänglich durchaus fälschlicherweise — das Dativkomplement als ein Dativattribut mit possessiver Lesart auffasst. Zwar ist es keineswegs so, dass sein immer auf dieselbe Person zu beziehen ist wie das Dativkomplement, doch, einmal als Möglichkeit erkannt, ist die Voraussetzung für die Entstehung pränominaler Dativattribute gegeben.
Weitere Erklärungsversuche
Vielleicht ist der Übergang von Dativkomplement zu adnominalem Dativattribut so ähnlich zu erklären wie das Kippen bei Bildern dieser Art:
Man sieht zunächst nur eine Struktur, doch — man weiß nicht wie — plötzlich sieht man, was doch offenkundig ein und dasselbe ist, auf andere Weise.
Zugehörigkeitsanzeige durch adnominale Dativattribute ist so ungewöhnlich nicht, denn schließlich erfolgen auch standardsprachlich Nennung und Erfragung von Besitzern oder Besitzerinnen ganz regulär in Form einer dativischen Phrase:
[die tageszeitung, 19.10.1991, S. 27]
[Berliner Zeitung, 12.08.1998, S. 8]
In manchen Regionen Deutschlands kann anstelle von gehören auch sein verwendet werden, um Besitzverhältnisse klarzustellen:
[Frankfurter Rundschau, 03.07.1997, S. 15]
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